Das Thema Burnout ist nach wie vor von vielen Vorurteilen und Missverständnissen umgeben. Während es zahlreiche Bücher zu diesem Thema gibt, spiegeln viele davon nicht die tatsächlichen Erfahrungen und Herausforderungen wider, die Menschen in der heutigen Arbeitswelt erleben. Thomas Mehr, erfahrener Medizinjournalist, Fachbuchautor und selbst Betroffener, widmet sich in seinem aktuellen Werk „Burnout: Phönix-Strategien für einen erfolgreichen Neuanfang“ vor allem dem Weg zurück ins Berufsleben nach einer Burnout-Therapie. Er erklärt, welche Rolle Angehörige, Kolleginnen und Kollegen sowie Führungskräfte spielen, um Betroffenen wirkungsvoll beizustehen und den Heilungsprozess zu unterstützen. Im Interview mit BuchInsider teilt er seine wichtigsten Erkenntnisse und Empfehlungen.

Herr Mehr, Sie gehen in Ihrem Buch sehr offen über Ihre eigenen Erfahrungen mit psychischer Erschöpfung um. Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie so nicht weitermachen können?
Thomas Mehr: Der entscheidende Moment kam, als ich eines Morgens einfach nicht mehr in der Lage war, aufzustehen. Vor mir lag ein Tag voller Verpflichtungen, doch mein Körper und mein Geist verweigerten jegliche Zusammenarbeit. Es fühlte sich an, als wäre ich innerlich völlig ausgelaugt, leer und überfordert. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass es nicht nur um körperliche Erschöpfung ging, sondern um eine tiefe seelische Erschöpfung.
Ich begann, mein Leben zu reflektieren: Ich hatte gesundheitliche Rückschläge hinter mir, unter anderem ein Aneurysma. Ich hatte familiäre Verluste erlitten und stand beruflich vor großen Herausforderungen. Gleichzeitig war ich gefangen in einem Teufelskreis aus Überforderung, hohen Erwartungen und dem ständigen Bemühen, allen gerecht zu werden.
Dieser Moment war ein Weckruf für mich. Ich erkannte, dass ich so nicht weitermachen konnte, ohne meine Gesundheit, meine Würde und möglicherweise sogar mein Leben zu gefährden.
Viele Betroffene sehen Burnout oder Depressionen als persönliches Versagen. Wie kann man dieses Stigma überwinden und den Mut finden, neu anzufangen?
Thomas Mehr: Gerade Führungskräfte tragen eine immense Verantwortung im Umgang mit psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz. Sie sind nicht nur für die fachliche Leitung zuständig, sondern prägen maßgeblich die Unternehmenskultur. Das beinhaltet natürlich auch das seelische Wohlbefinden der Mitarbeitenden. Sie haben die Möglichkeit, erste Anzeichen von Überlastung oder Rückzug frühzeitig zu erkennen und durch Empathie und Aufmerksamkeit unterstützend einzugreifen, bevor sich die Belastungen chronifizieren.
Eine Führungskultur, die von Vertrauen, Offenheit und Wertschätzung geprägt ist, schafft den Raum, in dem Mitarbeitende sich trauen, über ihre inneren Schwierigkeiten zu sprechen. Führungskräfte, die den Menschen hinter der Leistung sehen, ermöglichen Heilungsprozesse erst.
Leider wird diese Verantwortung oft unterschätzt. Viele Führungskräfte stehen selbst unter enormem Druck und sind in Systemen sozialisiert, die Produktivität und Effizienz über alles stellen. Psychische Gesundheit wird häufig als Privatsache betrachtet, die im beruflichen Kontext keinen Platz hat. Dabei ist nachhaltige Leistungsfähigkeit nur möglich, wenn die psychischen Ressourcen der Mitarbeitenden geschützt und gestärkt werden. Ein Faktor, welcher vielen Führungskräften nicht bewusst ist.
Wirkliche und echte Führungsqualität zeigt sich nicht nur in Erfolgszeiten. Es sind die Momente mit Krisen und dessen Umgang. Moderne Führung bedeutet, psychische Gesundheit offen anzusprechen – das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Verantwortungsbewusstsein und Menschlichkeit. Wer sich diesem Thema stellt, fördert nicht nur die individuelle Heilung, sondern schafft langfristig ein gesünderes und motivierenderes Arbeitsumfeld.
Welche Bedeutung kommt Führungskräften bei der Wiedereingliederung nach einem Burnout zu, und warum wird ihre Rolle häufig unterschätzt?
Thomas Mehr: In der heutigen Arbeitswelt gibt es zwar zahlreiche Institutionen und Anlaufstellen, die sich mit psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz befassen. Vom Betriebsrat über den Betriebsarzt bis hin zur Personalabteilung. Doch die wichtigste und unmittelbarste Anlaufstelle für Mitarbeitende bleibt die direkte Führungskraft. Sie steht im täglichen Austausch mit ihren Mitarbeitenden und hat daher die beste Möglichkeit, frühzeitig Veränderungen im Verhalten oder der Leistungsfähigkeit zu erkennen. Gerade bei psychischer Belastung ist dies entscheidend, denn oft zeigen sich erste Warnsignale subtil: Rückzug, verringerte Konzentration oder eine spürbare Erschöpfung.
Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, wie essenziell eine behutsame und gut begleitete Rückkehr in den Beruf ist. Nach meiner Burnout-Erkrankung durchlief ich eine Phase von etwa sechs bis acht Wochen, in der ich langsam wieder in den Arbeitsalltag eingegliedert wurde. Dabei verbrachte ich nur wenige Stunden pro Woche im Unternehmen – nicht als voll einsatzfähiger Mitarbeiter, sondern in einem geschützten Rahmen, der mir erlaubte, mich Schritt für Schritt an die Anforderungen zu gewöhnen. Entscheidend war, dass meine Führungskraft jederzeit wusste, dass ich noch nicht meine volle Leistungsfähigkeit erreicht hatte – und dass das vollkommen in Ordnung war.
Gerade in dieser sensiblen Phase ist ein hohes Maß an Achtsamkeit, Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl gefragt. Sowohl von der Führungskraft als auch vom Team. Es gilt, einen Raum zu schaffen, in dem Betroffene ihre eigenen Grenzen wahrnehmen und respektieren können. Fragen wie: „Bin ich heute bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen?“, „Wie viel Belastung kann ich verkraften?“, „Reicht es heute, nur E-Mails zu beantworten?“ oder „Kann ich Pausen machen und meine Grenzen klar kommunizieren?“ sind essenziell für eine nachhaltige und gesunde Genesung.
Diese Phase der schrittweisen Wiedereingliederung ist keine Schwäche, sondern ein wichtiger Teil des Heilungsprozesses. Führungskräfte, die dies verstehen und unterstützen, leisten einen unschätzbaren Beitrag zur langfristigen Stabilität ihrer Mitarbeitenden und zur Gesundheit des gesamten Teams.
Heute gehe ich deutlich bewusster mit mir um und achte auf meine Bedürfnisse. Die zweijährige Auszeit hat mir gezeigt, wie wichtig Selbstfürsorge und achtsames Verhalten sind – nicht nur für die eigene Gesundheit, sondern auch für die Qualität der Arbeit.
Wie sollte ein gesunder Umgang mit psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz aussehen?
Thomas Mehr: Es braucht einen grundlegenden Wandel in der Unternehmenskultur. Psychische Gesundheit muss endlich den gleichen Stellenwert erhalten wie körperliche Gesundheit. Das bedeutet, dass Themen wie Stress, Überforderung oder Erschöpfung offen angesprochen werden dürfen, ohne Angst vor Stigmatisierung oder negativen Konsequenzen haben zu müssen. Eine offene, wertschätzende Kommunikationskultur ist die Basis, um psychische Belastungen frühzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken.
Unternehmen sind gefordert, aktiv Rahmenbedingungen zu schaffen, die das psychische Wohlbefinden ihrer Mitarbeitenden fördern. Flexible Arbeitszeiten, die Möglichkeit zum Homeoffice, ausreichend Pausen und ein realistisches Erwartungsmanagement sind keine „Extras“, sondern notwendige Bestandteile eines gesunden Arbeitsumfelds. Diese Maßnahmen helfen, Stress zu reduzieren und die Balance zwischen Arbeit und Privatleben zu verbessern.
Darüber hinaus sind regelmäßige Schulungen und Aufklärung für Führungskräfte und Mitarbeitende unerlässlich. Nur wer die Symptome und Warnzeichen psychischer Belastungen kennt, kann frühzeitig reagieren – sowohl bei sich selbst als auch bei Kolleginnen und Kollegen.
Vor allem aber muss ein Klima entstehen, in dem Mitarbeitende sich sicher fühlen, offen über ihre mentale Verfassung zu sprechen. Wer Unterstützung sucht, soll darin bestärkt und nicht ausgegrenzt werden. Ein wirklich gesunder Umgang mit psychischer Gesundheit zeigt sich nicht nur in konkreten Maßnahmen, sondern vor allem in einer Haltung, die von Empathie, Achtsamkeit und Menschlichkeit geprägt ist.
Warum steigen die Burnout-Zahlen Ihrer Meinung nach so stark an?
Thomas Mehr: Die Ursachen für die Zunahme psychischer Erkrankungen sind vielschichtig. Ein wesentlicher Treiber ist die immer schnellere Taktung unseres Lebens. Der Druck, ständig erreichbar zu sein, sofort zu reagieren und dauerhaft Höchstleistungen zu erbringen, wirkt auf viele Menschen wie ein unsichtbarer, aber permanenter Stressfaktor – oft ohne dass sie sich dessen bewusst sind.
Besonders gefährdet sind Berufsgruppen mit hoher Verantwortung und emotionaler Belastung: Führungskräfte, Lehrkräfte, Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte sowie Beschäftigte in Branchen wie IT oder Versicherungen. Dort, wo Stress zum Alltag gehört, steigt das Risiko für Erschöpfung und Burnout deutlich.
Zwar verändern sich Arbeitsmodelle allmählich – mit flexiblen Arbeitszeiten, Homeoffice und sogar der Vier-Tage-Woche –, doch das allein reicht nicht aus. Es braucht ein neues Mindset, das sowohl auf individueller als auch auf organisationaler Ebene verankert wird.
Hinzu kommt der technologische Wandel. Während jüngere Generationen meist mit digitalen Medien aufgewachsen sind, fehlt vielen älteren Mitarbeitenden die nötige Unterstützung im Umgang mit neuen Technologien. Das führt zu zusätzlichem Druck und Überforderung.
Darüber hinaus verlangt der Umgang mit digitalen Medien mehr Selbstdisziplin: Nicht jede Nachricht muss sofort beantwortet, nicht jede Information sofort verarbeitet werden. Die Fähigkeit, Reize bewusst zu steuern, wird zu einer zentralen Kompetenz in einer reizüberfluteten Welt.
Welche Tipps geben Sie Betroffenen, um wieder zu mehr Energie, Lebensfreude und Sinn zu finden – beruflich wie privat?
Thomas Mehr: Der erste und wichtigste Schritt ist, sich selbst zu erlauben, Hilfe anzunehmen – sei es durch Therapie, Coaching oder vertrauensvolle Gespräche mit nahestehenden Menschen. Es braucht Mut, sich Unterstützung zuzugestehen, doch genau dieser Schritt öffnet die Tür zur Heilung.
Gleichzeitig ist es essenziell, sich von äußeren Erwartungen zu lösen. Nicht die Maßstäbe anderer, sondern das eigene Wohlbefinden sollte im Mittelpunkt stehen. Wer sich Zeit nimmt, sich selbst neu kennenzulernen, kann innerlich zur Ruhe kommen. Achtsamkeit und Selbstfürsorge helfen dabei, im Hier und Jetzt anzukommen und belastende Gedanken zu relativieren.
Ein zentraler Aspekt ist, die eigenen Grenzen zu erkennen und diese klar zu kommunizieren. Im beruflichen Alltag bedeutet das, sich nicht in Überforderung zu verlieren, sondern Prioritäten zu setzen und auch mal „Nein“ zu sagen. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck von Stärke und Selbstachtung.
Was wünschen Sie sich für den gesellschaftlichen Umgang mit psychischen Erkrankungen, und wie kann Ihr Buch dazu beitragen?
Thomas Mehr: Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der psychische Erkrankungen genauso selbstverständlich und ohne Vorurteile behandelt werden wie körperliche Krankheiten. Es braucht ein Umdenken, das psychische Gesundheit als integralen Bestandteil unseres Wohlbefindens anerkennt – und die Erkenntnis, dass niemand davor gefeit ist.
Mein Buch möchte diesen Wandel fördern, indem es zeigt, dass psychische Belastungen kein Makel sind, sondern Teil des Menschseins. Indem ich offen über meinen eigenen Weg spreche, möchte ich Betroffenen Mut machen und ihnen zeigen: Du bist nicht allein.
Gleichzeitig soll das Buch den gesellschaftlichen Dialog anstoßen – für mehr Verständnis, Mitgefühl und Offenheit im Umgang mit psychischer Gesundheit.
Wenn wir aufhören zu urteilen und stattdessen zuhören, können wir gemeinsam eine Kultur schaffen, in der es selbstverständlich ist, auch seelische Wunden heilen zu lassen – genauso selbstverständlich, wie wir einen gebrochenen Arm behandeln.
Fazit: Burnout – weder Schwäche noch Tabu
Burnout ist kein Zeichen von Schwäche oder persönlichem Versagen, sondern eine ernstzunehmende Reaktion auf anhaltende Überlastung – sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld. Die Verantwortung für einen gesunden Umgang mit psychischer Gesundheit liegt nicht nur bei den Betroffenen selbst, sondern vor allem auch bei Führungskräften und Unternehmen. Nur durch Offenheit, gegenseitiges Verständnis und eine wertschätzende Kultur kann Heilung gelingen und Prävention wirksam werden. Thomas Mehr zeigt eindrucksvoll, wie wichtig es ist, sich selbst und anderen mit Achtsamkeit zu begegnen und den Mut zu finden, neue Wege zu gehen – für ein erfülltes und gesundes Leben.
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